
Die diesjährigen Hochwasser im Rhein haben dem Flussregenpfeifer, der auf den Kiesinseln seine Eier legt, den Bruterfolg grösstenteils ver- unmöglicht. Zusammen mit dem im Alpenrhein bekannten Sunk und Schwall ergab sich wieder einmal ein Jahr praktisch ohne flugfähige Jungvögel.
Nun sind sie wieder fort, schon länger, nämlich Anfang August. Und sie mussten sich ohne Jungvögel auf den Rückflug in die Winterquartiere aufmachen: die Flussregenpfeifer. Man beachtet sie eigentlich gar nicht, so gut ist ihr Federkleid angepasst an die graue Umgebung auf den Kiesbänken im Rhein: oben ein brauner Rücken, eine weisse Unterseite, ein schwarzes Band hinter dem Auge und – mit einem guten Fernglas zu sehen – ein gelber Lidring. Wenn man sie nicht kennt, sieht man sie nicht, bis man plötzlich denkt, dass sich ein «Rhybolli» bewegt hat. Der Vogel rennt mit seinen schnellen Trippelschritten über den Boden, hält plötzlich an, um rasch wieder eine Strecke zurückzulegen. Manchmal trampelt er energisch auf Sand oder Schlamm herum, um Beutetiere aufzuscheuchen. Flussregenpfeifer ernähren sich von Würmern, Larven, Weichtieren, kleinen Spinnen und anderen dicht unter der feuchten Bodenoberfläche lebenden Kleinlebewesen.
Diese Vögel brüten von April bis Ende Juli in einem offenen Gelege zwischen den Steinen auf den Kiesinseln oder sonstigen, vegetationsfreien Kiesflächen. Während der ganzen Zeit sind sie dem Wetter und im Rhein dem Hochwasser ungeschützt ausgesetzt. Während der Balz «offeriert» das Männchen mehrere flache Mulden, von denen das Weibchen dann eines als Nest wählt und drei bis vier Eier hineinlegt, die durch Farbe und Farbmuster sehr gut getarnt sind; sie sind nur etwa fingernagelgross. Die Brutdauer beträgt 24 bis 25 Tage. Es brüten beide Geschlechter. Bei Gefahr locken die Eltern durch ein Verhalten namens Verleiten den Angreifer in eine andere Richtung und versuchen so, ihre Brut zu schützen.
Die Brutplätze des Flussregenpfeifers in der Schweiz und in Liechtenstein. Auffällig ist, dass entlang der liechtensteinischen Staatsgrenze das grösste zusammen…
Ein besonders grosses Brutgebiet
Diese Vogelart ist Gegenstand einer überregionalen Beobachtungsgruppe mit Beteiligung der Kantone Graubünden, St. Gallen und des Fürstentums Liechtenstein. Im Verlaufe dieser Beobachtungen hat sich gezeigt, dass die fast 60 Kiesinseln zwischen dem Ellhorn Balzers und der Ill-Mündung das grösste zusammenhängende Brutgebiet dieser Vogelart in der Schweiz bilden. Der Flussregenpfeifer hat also einen sehr starken Bezug zum Land Liechtenstein (siehe Karte der Reviere). Auch ein Birdlife-Projekt fokussiert seit zwei Jahren auf diese Vogelart.
Flussregenpfeifer sind Langstreckenzieher und machen eine erstaunlich weite Reise – meistens nachts – zum Winterquartier, das sie von November bis Februar besetzen. Meistens liegt es südlich der Sahara bis zu den Küsten Westafrikas, Zaire, Tansania und Kenia. Und natürlich ist diese weite Reise mit vielen Gefahren verbunden, unter denen hunderte Vögel leiden und die viele Individuen letztlich nicht überstehen. Deshalb wäre es umso wichtiger, dass diese Vogelart einen guten Bruterfolg aufweisen kann. Man muss sich den Flug ins Winterquartier nicht an einem Stück vorstellen, sondern in vielen Etappen mit Pausen, in denen sie sich wieder auffüttern für die nächste Etappe.
Für gewöhnlich zwei Bruten
Im Frühling tauchen die ersten Flussregenpfeifer etwa am 20. März auf, dann folgen Revierkämpfe, und in guten Jahren schaffen die Vögel zwei Bruten – wenn es die Hochwasser im Rhein zulassen. Dieses Jahr war dies nicht der Fall: Mehrere Hochwasser haben entweder die Gelege zerstört oder die Jungvögel ertränkt. Es konnten keine Jungvögel nachgewiesen werden, auch ausserhalb des Rheins wurden keine gefunden. Das Jahr 2020 hingegen verlief optimal, häufig mit zwei erfolgreichen Bruten. Eine grosse Gefahr für die Bruten bilden Graureiher und vor allem die Rabenvögel, die oft in grosser Zahl auf den Kiesbänken zu sehen sind. Die Brutprozesse auf den Kiesinseln des Rheins sind anfällig für Störungen: Beach-Partys, insbesondere während der Lockdown-Zeiten, leinenlose Hunde, Erholungssuchende und so weiter.
Leo Sutter
Volksblatt, Seite der Natur, 9.12.2021